Verzweiflung, Liebe, Rausch und Wahn: »Müde«, das am 3.11.2023 erscheinende zweite Album der Wiener Wahnsinnsrockband Leftovers, ist alles, nur nicht müde. Es handelt auf überwältigende Weise von chronischer Überforderung, von Panikattacken, toxischen Beziehungen und anderen Katastrophen der Adoleszenz. Ein wütender Aufschrei voller Begehren.»
Eine Angststörung besteht, wenn Angstreaktionen in eigentlich ungefährlichen Situationen auftreten. Die Angst steht in keinem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Betroffene erleben die Angst dennoch psychisch und körperlich sehr intensiv«
Mit diesen nüchtern referierten Zeilen, die wir hier unbedingt einmal vollständig zitieren müssen, beginnt »Müde«, das zweite Album der nervenzerfetzend guten Wiener Krach-Pop-Band Leftovers. Der Song dazu heißt »System«, und nach diesen Zeilen explodieren Leftovers in einen dieser grungeinspirierten Ausbrüche, die sie so wahnsinnig mitreißend beherrschen.
Was danach kommt ist für diese Gruppe jedoch neu: Die unbändige Energie der Leftovers wird in der Strophe ein bisschen gedrosselt, kanalisiert. Die Gitarren pfeifen im Hintergrund wie ein defekter Wasserkessel, der Bass grundiert grollend, Leonid Sushon singt akzentuiert, alles bereitet auf den Ausbruch vor – und wenn die Detonation dann mit einem nunmehr atemlosen Leonid kommt, wenn der Sänger und Gitarrist nun also die Zeile »Zertrümmere meinen Brustkorb und ich schenke dir mein Herz«, geradezu keift, sich dabei überschlägt, nach Atem ringt, alles aus sich herausschreit, kommt dieser irrwitzige Ausbruch umso überwältigender.
Man merkt also gleich: Wo diese Band zuletzt ein einziger dauerexplodierender Vulkan war, pflegt sie nun einen ökonomischeren Umgang mit ihrer Energie – um sie im entscheidenden Moment umso wirkmächtiger, nun ja: passieren zu lassen. Der zweite Song, »15. Bezirk«, ist düster-glamouröser Post-Punk mit Synthies und wenn es im Refrain heißt »Tauch meinen Kopf unter Wasser und vergiss mich nicht«, klingt die Band tatsächlich, als würde sie unter Wasser musizieren. Gedämpft, verhallt, aus der Ferne.
Das folgende »Bellen« ist ebenfalls mehr Post-Punk als Grunge, »Du schmeckst so gut« wiederum Noise-Rock. Ein bestechendes Gespür für Dynamik, für Hooks und die richtige Zeile im richtigen Moment sowie für das ausgewogene Wechselspiel von laut und leise eint all diese Songs. Wenn man diese Musik hört, kann man sich kaum vorstellen, dass nicht einmal ein ganzes Jahr vergangen ist, seit Leftovers ihr erstes Album »Krach« veröffentlicht haben.
Damals hatten Leftovers zwischen Teenage Angst, chronischer Überforderung, Hysterie und Hedonismus die aufregendste Underground Gitarrenrockmusik der Stunde zelebriert. »Krach« hatte eine unbändige entfesselte Energie sondergleichen, das Debüt trug aber auch ein Versprechen in sich – das die Band nun mit »Müde« tatsächlich einlöst.